Agiles Mittelalter.

 

Der königliche Kundgeber ruft das Volk zusammen. Schwierige Zeiten stehen unmittelbar bevor. Nein, die Nachrichten sind leider noch deutlich schlechter. Die schwierigen Zeiten sind schon lange da. Ein Drache bedroht das Volk, das Wetter wird von Tag zu Tag stürmischer, die Schatztruhe ist verschwunden und der neue König erwartet 300.000 Gäste zur königlichen Hochzeit in diesem Jahr. Der gesamte Hofstaat ist in heller Aufregung. Das Volk verlangt nach Lösungen.

 

Keine Angst. Ich möchte Euch kein Märchen aus dem Mittelalter erzählen, aber die Parallelen zur heutigen Zusammenarbeit in deutschen Großkonzernen kann ich euch auch nicht vorenthalten. Wir begeben uns also ins Mittelalter. In die Zeit zwischen 750 und 1450. Lange her und doch so aktuell. Also zurück zum Drachen, der das Volk bedroht. Nennen wir ihn mal „Wettbewerbus“. Wie ihr sicher wisst, gab es im christlichen Mittelalter eine sehr enge Beziehung zwischen den Drachen und dem Teufel. Und im Hochmittelalter war dann der Kampf zwischen heldenhaften Rittern und dem volksbedrohendem Drachen ein beliebtes Schauspiel. Wollen wir nicht lange drum herum reden, der Drache muss sterben. Tod dem Wettbewerbus. Früher und heute. Aber ein Problem kommt selten allein. Das ist noch eine Gemeinsamkeit zwischen dem Mittelalter und dem Großkonzern der Neuzeit. Nicht nur der Drache Wettbewerbus bedroht die heimischen Wälder, sondern das Wetter wird auch jeden Tag rauer, stürmischer und ungemütlicher. Die Ernte der Bauern steht im Risiko und die Privilegien des Adels wackeln, wie ein Betrunkener im Hochseilgarten. Und das alles liegt an den immer stärker werdenden atmosphärischen Umgangs-Winden. Der Ton wird rauer. Zusätzlich sind leider die königlichen Münzreserven derzeit in einer sehr angespannten Situation. Investitionen an der Zugbrücke, teure Kleider für die Königin, Gewürze aus Fernost und neue Pferde für die Ritter haben ein Loch in die königlichen Reserven gerissen. Außerdem hat der böse Robin Hood die Schatztruhe gestohlen und sie an die arme deutsche Umwelthilfe verteilt. Und das genau in dem Jahr, als der neue König zu seiner Hochzeit so viele Gäste wie noch nie einladen möchte. 300.000 sollen bedient, bespaßt, verköstigt werden. Die Situation ist mehr als angespannt und das Volk erwartet eine schnelle Reaktion.

 

Die heilige Priesterin der Klostergilde stellt also im Auftrag des Königs eine starke, mutige, fleißige, schnelle und ordentliche Gemeinschaft zusammen, die die Herausforderungen des Mittelalters bekämpfen soll. Wettbewerbus soll sterben, die atmosphärischen Umgangs-Winde sollen zurück in die Benimmschule wehen, die Schatztruhe soll glänzen und 300.000 Einheiten sollen sich im heimischen Schloss wohlfühlen. Gesucht und ausgerufen wird also als Erstes der stärkste Mann im Volke. Die Wahl fällt schnell und einstimmig auf den Schmied. Er stellt die mächtigsten Waffen her, erschafft nützliche Werkzeuge aus Eisen und Bronze und ist seit Jahren ein geschätzter Handwerker des Königs. Er bringt ganz sicher genügend Kraft mit, um den Wettbewerbus zu besiegen. Aber wer hat im Lande auch den nötigen Mut, um diesen Herausforderungen standzuhalten. Das klärt die Tafelrunde des Königs unter sich. Der mutigste Ritter stellt sich den Herausforderungen und meldet sich neben dem Schmied zum Abenteuer an. Die heilige Priesterin klatscht in die Hände, fordert aber noch Fleiß, Flinkheit und Ordnung ein. Aus dem Volke wird der Bäckersmann benannt. Er steht morgens viel früher auf als alle anderen und beschwert sich nie. Wenn das kein Beweis für wahren Fleiß ist. Der Pfister stellt sich zwischen den starken Schmied und den mutigen Ritter. Der König ist noch dazu ein sehr ungeduldiger Anführer. Daher besteht die Priesterin auf einen schnellen Aufbruch. Als Synonym soll eine flinke Katze dienen. Das Kätzchen setzt sich auf die Schulter des Schmieds und freut sich auch auf das Abenteuer. Sie hatte das Schloß noch nie verlassen dürfen. Außerdem machen Kleider Leute, Eindruck und sorgen für einen ordentlichen Auftritt. Die attraktive Schneiderin schließt sich als fünftes Mitglied an. Als letztes Mitglied der mobilen Eingrifftruppe aus dem Mittelalter meldet sich die Köchin. Ohne Mampf kein Kampf. Die Gruppe ist vollständig. Aber sie braucht noch einen Namen. Nennen wir sie mal mit Gottes und Königs Segen „Schwarm-Intelligenz“ oder eben „Agilität“.

 

Die Trompeten pusten zum Aufbruch, der Adel winkt aus dem Königshaus und das Volk applaudiert und staunt. Doch nichts bewegt sich. Der Schwarm bleibt auf der Stelle stehen und diskutiert, wer denn jetzt der Anführer sein soll und in welche Richtung man überhaupt aufbrechen solle. Der starke Schmied stößt einen Kampfschrei aus und rennt Richtung Norden, der mutige Ritter bekreuzigt sich und reitet Richtung Süden, die ordentliche Schneiderin streicht sich ihre Robe zurecht und lächelt Richtung Westen, der fleißige Bäcker wischt sich das Mehl aus den Augen und rennt Richtung Osten. Die flinke Katze springt panisch zwischen allen hin und her. Die Besten der Besten sind sich leider nicht einig. Das wird der Priesterin aus dem Kloster zu bunt. Sie schickt einen glatzköpfigen tibetanischen Mönch, der mit seiner Weisheit die Richtung vorgeben und aus den Einzelkämpfern ein Team formen soll. Inklusive schönen Klostergrüßen von der Priesterin, dass alle Probleme (Drache, Sturm, Schatztruhe, 300.000 Gäste) gemeinsam bewältigt werden sollen. Alles bewegt sich, doch niemand und nichts geht voran. Der Schmied will seinen Amboss mitnehmen, der Ritter poliert seine Rüstung, die Schneiderin näht eine schmucke Angriffsfahne, der Bäcker ist am Nachmittag bereits müde und die Katze springt immer noch zwischen allen hin und her. Man nennt sie bereits die „agile Agathe“. Die Köchin kauft seit Stunden auf dem Markt ein. Nach zehn Tagen stehen die ausgewählten Sieben immer noch im Schloss und diskutieren, ob nun der Drache Wettbewerbus oder die fehlende Schatztruhe wichtiger wäre. Nur zur Erinnerung: Der Drache macht´s sich derweil gemütlich, es schneit mittlerweile aus der Umgangsformen-Richtung, die königliche Staatskasse ist am Limit und die Einladungen wurden bereits an 300.000 Hochzeitsgäste verschickt. Die glorreichen Sieben stehen aber immer noch im Hof und besprechen die Farben der Kriegsflagge und was es zum Nachtisch geben soll. Der Priesterin platzt der Kragen. Es soll doch endlich losgehen. Da meldet sich die Frau vom Schmied, dass er doch bitte noch den Metallzaun am Wintergarten reparieren soll, bevor er ins große Abenteuer zieht. Und eigentlich hat der Schmied sowieso keine Zeit für Abenteuer. Die Schneiderin verweist auf ihren Halbtags-Status und der Bäcker ist bereits eingeschlafen. Er ist ja auch schon früh aufgestanden und hat seinen Job bereits erledigt, als noch alle schliefen. Der Ritter reitet eigenständig, aber mit Vollgas los und die agile Agathe ist auf den Baum gesprungen, um einen Überblick zu erstellen. Die Köchin verhandelt am Gemüsestand über den Preis des Blumenkohls. Alle werden zusammen gerufen und mit einer gemeinsamen Hymne motiviert. Die Priesterin spielt zur Beruhigung auf der Harfe und hat schon rote Hektikflecken auf der Wange.

 

Die agile Agathe weiß jetzt aber, nach einem 2-wöchigen Selbststudium in Agilität, wie es geht. Ziel Nummer 1 ist „der böse Drache Wettbewerbus und der raue Wind fehlende Umgangsformen“. Beide müssen schnell weg. Danach folgt Ziel Nummer 2 „die Suche nach der Schatztruhe“ und im Anschluss dann Ziel Nummer 3 „die Bespaßung der 300.000 Gäste“.

 

Alle atmen auf. Endlich gibt es Klarheit. Die agile Agathe bekommt für diese Leistung die königliche Anstecknadel in Glühbirnen-Form. Tolle Idee eben. Gleich morgen früh soll´s gemeinsam losgehen. Alles klar. Am nächsten Morgen bestellt der Schmied einen Pferdekutschwagen für seinen Amboss. Die Schneiderin meint, dass für tolle Kleider gar kein Amboss benötigt wird und lächelt dabei herablassend. Der Bäcker ist bereits Richtung Schatztruhe unterwegs, obwohl der Drache noch lebt. Aber er ist frühes Aufstehen eben gewohnt und kann nicht anders. Die agile Agathe analysiert noch die Windrichtung und die Köchin fragt, ob glutenfreie Pizza oder doch lieber ein deftiger Eintopf für den langen Marsch bevorzugt wird. Die Priesterin wird mittlerweile durch den Haus- und Hofmagier psychisch betreut. Kaum zu glauben, aber die auserwählte Helden-Truppe steht immer noch im Schloss. Jetzt soll es aber wirklich losgehen. Der mutige Ritter hat einen Plan. Er beauftragt den Schmied, harte Waffen aus Stahl zu schmieden. Der Schmied lächelt, spannt den Bizeps an und legt los. Dann kommt die Köchin und fragt den Schmied, warum er immer nur Eisen schmiedet. Er soll es doch mal mit Holz oder Samt versuchen. Nicht immer nur Eisen. Der Schmied versteht die Frage nicht und hämmert weiter. Die Schneiderin zwinkert der Köchin zu und unterbricht ihn nochmals mit der Bitte, mal etwas aus Holz oder Samt zu schmieden. Der Schmied versteht aber leider auch die Schneiderin nicht und schmiedet mit noch mehr Kraft und Wucht weiter. Dem Ritter gefällt das. Er freut sich schon auf ein neues Schwert. Der Köchin reicht es aber und sie beschwert sich beim Papa-Mönch. Der Schmied will gar kein Holz schmieden. Und Samt schon gar nicht. Der Mönch lächelt angestrengt, zitiert fehlerhaft Konfuzius und streichelt sich dabei mit kreisenden Bewegungen über den Bauch. Dann rennt er zur Priesterin und weint sich dort aus. Der Schmied ist ein ungehobelter Klotz, der Ritter will immer nur kämpfen. Die Schneiderin und die Köchin können gar nicht kämpfen, der Bäcker ist nachmittags immer nur müde und die Katze weiß nicht, wo die Schatztruhe wirklich steht. Die Priesterin meint, dass sie die Stärksten, die Mutigsten, die Schnellsten, die Ordentlichsten und sogar eine Köchin benannt hat, um den Drachen zu töten, die Winde zu verjagen, die Schatztruhe zu finden und eine Party für 300.000 Gäste sicherzustellen. Das kann doch nicht so schwer sein. Der Mönch soll jetzt das Team endlich in die richtige Richtung losschicken und für den Erfolg sorgen. Der Mönch nickt und weint erst dann, als er wieder allein im Keller bei seinen Kuscheltieren Trost findet.

 

Nach drei weiteren Besprechungen ist jetzt alles klar. Jeder macht das, wovon er/sie am wenigsten Ahnung hat. Der Schmied näht die Kleider für die Hochzeitsgäste. Der Bäcker formt aus Mürbeteig die Schwerter, der Ritter reitet auf der Katze Richtung Sonnenuntergang und die Köchin kocht mit Schrauben und Nägeln. Der Drache Wettbewerbus fühlt sich sehr wohl im Lande des Königs und vermehrt sich prächtig. Im Rücken wehen raue Umgangsformenwinde, die stellenweise schon Wind-Stufe „Beleidigung“ erreichen. Der Drache hat keinerlei Gefahr zu befürchten. Die Schatztruhe liegt irgendwo im Robin-Hood Forest und der König hat den 300.000 Gästen bereits final abgesagt. Die Priesterin ist im Keller des Klosters und spielt mit dem Mönch „Mensch ärgere dich nicht“. Ein Hoch auf die agile Zusammenarbeit, in der jeder wirklich alles kann, alles will, aber leider niemand wirklich etwas gegen Drachen oder andere Gefahren unternimmt. Zu viel Agilität bremst. Klingt komisch, ist aber so. Lang lebe der König.

 

 

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