Egoist.

Ich passe hier noch rein.“ Ein einfacher Satz. Schnell ausgesprochen. Aber mit großer Wirkung. Und das ist wahrlich kein gequetschter Satz einer „Biggest-Looser-Kandidatin“ aus der Umkleidekabine in der Cocktail-Kleid-Abteilung bei C&A, sondern aus dem 4. Stock eines Bürogebäudes vor einem bereits deutlich überfüllten Fahrstuhl. Aber der Reihe nach.


Ich steige im 9. Stock in den Fahrstuhl ein und die Welt ist noch in Ordnung. Es geht zwar abwärts mit mir, aber das soll ja auch so sein. Im 7. Stock dann der erste Halt. Ich begrüße die 16-köpfige Reisegruppe aus Europas Hauptstädten und mache mich so „dünn“ wie nur möglich. Im 6. Stock will noch ein Pärchen einsteigen. Vergebens. Der Fahrstuhl ist so voll, wie die Landwirte beim Hoffest von „Bauer sucht Frau“. In Gedanken verteilt Inka Bause in Sektlaune Schnäpse an alle zahnlosen Traktor-Profis. Ich habe mittlerweile das Atmen vollständig eingestellt. Dann folgt der besagte Halt im 4. Stock. Die Tür öffnet sich und ein lautes „Ich passe hier noch rein!“ hallt in den Fahrstuhl wie ein Heidi-Echo durch die Schweizer Berge.

 

Der selbstbewusste, stark übergewichtige Herr unterschätzt aus meiner Sicht die Situation vollkommen. Wie einst Feldherr und Diktator Gaius Julius Caesar sah, sprach und schob er sich in den Fahrstuhl rein, wie eine fette Made in den Speck. Unglaubliche Szenen spielen sich dann in Zeitlupe ab. Eine Frau in erster Reihe verzieht angstvoll das Gesicht, krümmt sich zu einer Banane und pullert direkt ein, da eine fremde Aktentasche ihr gnadenlos auf die Blase drückt. Ihr Kollege versucht sie noch zu retten und wirft sich schützend vor den heran rauschenden „Ich-passe-hier-noch-rein-Koloss“. Keine gute Idee. Er prallt wirkungslos ab wie die flirtenden Blicke von Mallorca-Jens an Heidi Klum. Alle keuchen und suchen wie Regenwürmer neue ertragbare Positionen. Der Regenschirm meiner Platznachbarin drückt ihrem Gegenüber direkt ins Nasenloch und man kann wirklich nicht mehr erkennen, welcher Arm und welches Bein zu welcher Person gehört. Quasi wie auf der Königsmatte im Swingerclub um Mitternacht zur „Happy-End-Hour“. So müssen sich die Bienen im Bienenstock fühlen, wenn der freche, verzogene Nachbarlümmel wieder einmal mit dem Baseballschläger ungehalten drauf haut. Es ist wirklich unerträglich eng - aber alles bewegt sich irgendwie. Die Fahrstuhltür schließt sich und ich hänge mit dem Gesicht am Spiegel fest, so dass sich dichte Atemwolken bilden. Ich schreibe mit der Nase das Wort Hilfe rein. Ein türkischer Kollege bittet Allah um Unterstützung und die Luft ähnelt der in einem Kuhstall bei 40 Grad im Schatten. Explosionsgefahr hoch zehn. Ohne Worte.

 

Als wir endlich im Erdgeschoß ankommen, überschlagen sich die Ereignisse. Wir sind mittlerweile wie ein Wollknäuel verknotet, mit dem drei junge, aufgedrehte Katzen wilde Hatz gespielt haben. Die netten Männer von der Feuerwehr schneiden uns mit schwerem Gerät Stück für Stück frei, Sicherheitskräfte schmieren alle Ohnmächtigen mit Butter ein, ziehen sie raus wie beim Coitus interruptus und Marius Müller Westernhagen summt im Hintergrund seinen Wende-Hit „Freiheit“. Unter anerkennendem Applaus der Schaulustigen verlassen wir alle den Ort des Grauens - also den Fahrstuhl. Teilweise auf allen Vieren. Teilweise mit bleibenden Verrenkungen und Quetschungen. Ersthelfer, Psychologen und junge Priester thematisieren mit uns im Stuhlkreis die Themen Platzangst und Nahtod-Erfahrungen. Aber wir leben und beglückwünschen uns gegenseitig, dass keiner von uns einen nervösen Darm hatte. Wahres Glück im Unglück.

 

Aber jetzt Mal im Ernst, meine Damen und Herren. Wer entscheidet eigentlich, ob noch eine zusätzliche Person in den Fahrstuhl passt, oder eben nicht? Das ist doch aus meiner Sicht keine Stand-Alone-Entscheidung für einsame Egoisten. Ok, ich sehe ja auch ein, dass dafür kein Volksentscheid beantragt werden muss, aber mit einer gesunden Auffassungsgabe erkennt man doch auf Anhieb, dass ein weiterer Fahrgast genau einer zu viel ist. Ich kann mir diese Situation nur so erklären, dass der Typ in einer Sardinenbüchse groß geworden ist und plötzlich herzstechendes Heimweh bekommen hat. Oder er ist Trickbetrüger der Marke Taschendieb und sucht das schnelle Geld im Gedränge. Man man man. Im Kino kann ich auch nicht einfach in der Mitte des Blockbusters sagen: „Ich mach jetzt mal das Licht an!“ Oder im öffentlichen Schwimmbad: „Ich lass jetzt mal das Wasser ab!“ Oder beim Onkel Doktor als Letzter in den vollen Warteraum kommen und ansagen: „Ich bin als nächster dran!“ Oder in der Disko, wenn alle gerade tanztechnisch ausflippen: „Ich mach jetzt mal die Musik aus!“ Alles keine guten Ideen, wenn man nicht zufällig Robinson C. heißt und seit über 20 Jahren allein auf einer einsamen Insel lebt.

 

Also lieber Möchtegern-Fahrstuhl-Profi. Jetzt mal ganz genau lesen. Auch wenn da steht, dass dort 20 Personen reinpassen sollen, muss man das nicht unbedingt ausprobieren und damit physikalische Grenzen überschreiten. Das ist eine theoretische Angabe, die wirklich nichts mit der Realität zu tun hat. Quasi wie die Verbrauchs- und Emissionswerte deines VW Golf IV oder die Aussagen der Politiker im Wahlkampf. Nächstes Mal bitte freundlich grüßen, vielleicht noch winken, gute Weiterfahrt wünschen und geduldig auf den nächsten Fahrstuhl warten. Auch wenn es manchmal schwer ist. So funktioniert nämlich Rücksichtnahme und sorgt für ein besseres Klima in unserer Gesellschaft. Und wenn du es das nächste Mal ganz eilig hast, dann rutsche doch einfach das Treppengeländer runter. Oder mir den Buckel. Danke. Und jetzt dreh ich noch schnell das Radio lauter. Da läuft nämlich Falco mit dem Song „Die ganze Welt dreht sich um mich. Denn ich bin nur ein Egoist. Der Mensch, der mir am nächsten ist. Bin ich, ich bin ein Egoist.“. Na dann noch einen schönen Abend für mich. Aber nur für mich.

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