Ich kann einfach nicht weghören.

 

Da sitzt er wieder. Der Eine, der von 30 Minuten Bahnfahrt 28 Minuten laut und rücksichtslos geschäftlich gaaaanz wichtig telefoniert. Schick sieht er aus. Anzug, Binder, Lackschuhe, bunte Socken. Aber mit Rucksack von Jack Wolfskin. Und dann auch noch die extreme Outdoor-Variante. Style-Blocking nennt man so etwas wohl. However. Mister Important denkt wohl, dass er in seinem Büro, im 21. Stockwerk eines New Yorker Office-Skyscrapers einer weltweit tätigen und angesehenen Unternehmensberatung in einem Leder-Ohren-Boss-Sessel sitzt und über wichtige Finanz-Transaktionen mit seinem amerikanischen Börsen-Konsortium von Moodys, Fitch and Co. philosophiert. Er gestikuliert dabei wie der Wolf of Wallstreet persönlich und spricht so laut, als wäre er Michael Buffer, der den Kampf zwischen Rocky Balboa und Apollo Creed majestätisch ankündigt. Ich summe dabei „The circle of lion“ von Elton John und schnappe folgende Gesprächsfetzen ungewollt auf: „Die Agenda is full of important things!“ „Herr Schirm, rufen sie bitte die Frau Bochum an. Sie wartet auf mehr Input! Wichtig!“ „Raum 12K - der Konfi im 1. Stock. Ich leite das Prognose-Meeting. Das ist klar. Bin gut vorbereitet.“ Ich füge noch nickend hinzu: „Wow. Check it, break it, sell it. Over and out – Mister Dollarman.“

 

Obwohl ich mit ihm gemeinsam in einem Zug sitze, ist der Möchte-Gern-Broker in seiner eigenen Welt unterwegs. Ein bisschen beneide ich ihn ja doch. Er regelt (auch in der S-Bahn) wichtige Konferenzen, dreht am internationalen Finanzmarkt das große Manager-Rad und ich sitze einfach nur da und bekomme meine Hand nicht aus der Prinzen-Rolle. Nach weiteren 12 Minuten gebe ich ihm ein Zeichen, dass er doch bitte etwas lauter sprechen möchte, da ich bei den Fahrtgeräuschen nur die Hälfte mitbekomme. Ich möchte von ihm lernen. Denn laut Konfuzius findet man ja in einer Gesellschaft von drei Menschen immer einen, der ein Lehrer sein könnte. Ich schaue mich kurz um. Links neben mir ein stark übergewichtiger Grundschüler, der gerade seine Pausenhof-Banane vernichtet. Rechts neben mir ein Hund Marke Straßenköter Promenanden-Mischung. Die Wahl fällt also auf den Telefonmann mit bunten Strümpfen. Aber er ignoriert mich, steht auf und setzt sich wortlos um. Ich ziehe natürlich nach, höre weiter aufmerksam zu und signalisiere Zustimmung, in dem ich alle 10 Sekunden ein "Ja genau - so machen wir das" in seine Richtung hauche. Ich zeige ihm deutlich, dass ich gern zu seinem Team gehören möchte, in dem ich meinen Arm auf seine Schulter lege und flüstere: „together we are stronger than deutsche S-Bahn!“ Er schaut mich verwirrt an und steigt aus. Ich fahre weiter. So richtiges Teamwork ist das ja wohl dann doch nicht. Aber man sieht sich ja immer zwei Mal im Leben.

 

Aber jetzt mal im Klartext. Muss man in der S-Bahn minutenlang so laut telefonieren, dass alle drum herum kopfschüttelnd zur Seite schauen (und hören)? Und findet das Menschenrecht auf Privatsphäre in einem öffentlichen Bereich keine Anwendung mehr? Oder wird es automatisch durch das Recht des Lauteren ersetzt? Oder ist die S-Bahn sogar ein rechtsfreier Raum? Ich persönlich finde es schon befremdlich, wenn alle Datenschutz und Privatsphäre einfordern, dann aber in den sozialen Medien ihr Leben offenlegen und/oder in der S-Bahn geschäftliche Firmen-Details ausplaudern. Facebook weiß, wo du wann im Urlaub bist und was du dort getrunken hat. Instagram weiß, wo du was gestern zum Abendessen gegessen hast, wer dabei war und was sie an hatte. Und Snap-Chat hat lustige Videos mit Hundenase und heraushängender Zunge von dir. Das ist wirklich nichts Neues und aus meiner Sicht auch ganz oft wirklich sehr unterhaltsam. Aber Bahnfahrer wissen seit gestern auch eine Menge. Ich zum Beispiel gehe morgen in den „Raum 12K - der Konfi im 1. Stock. Melde mich bei Frau Bochum und frage sie, ob sie den wichtigen Input von Herrn Schirm zum Prognose-Meeting bekommen hat?“. Hoffentlich gibt es leckere Business-Häppchen zum Kaffee.

 

Aber das war noch nicht alles. Außerdem habe ich passiv mitbekommen, wie die Direktorin der Grundschule am Priesterweg heißt (Anm. d. Redaktion; Frau Eichelbaum) und dass Persil bei Lidl morgen im Angebot ist. Die Zentralbibliothek der TU Berlin schließt erst um 22:00 Uhr und der neue Song von Bausa heißt „Was Du Liebe nennst“. Bahn fahren bildet und Wissen ist Macht. Nichts wissen macht in diesem Fall aber auch wirklich nichts. Nächstes Mal lese ich dann lieber wieder ein Buch. Wie "oldschool". Hoffentlich liest niemand heimlich mit. Oder ich lese einfach laut vor. Auch eine Idee. Schönen Tag noch.

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